Die Apokalypse. Die erste WM ohne Italien zu Lebzeiten. Nicht dass die Squadra Azzurra in den letzten Jahren viel Anlass zur Freude gegeben hätte, aber ein Weltmeisterschaftssommer ohne das masochistische Vergnügen einer Vorrunde made in Italy, ist kein Weltmeisterschaftssommer. Keine Mannschaft der Welt kann die Squadra Azzurra ersetzen. Und da man nicht umbesetzen kann, wird man die grösste aller Fussballopern also ohne den Figaro geben! Als Tifoso der Squadra Azzura, der ich seit meinem zehnten Lebensjahr bin, kommt dieser Tag tatsächlich jener Apokalypse gleich, die Italiens Verbandspräsident Carlo Tavecchio in einem Anflug fehlgeleiteter Motivationsrhetorik im Vorfeld an die Wand gemalt hatte. Tavecchio ist nicht nur ein alter Mann, er ist ein alter, bösartiger Gartenzwerg, der inmitten des heiligen Rasens steht und Unkraut sät. Niemand in Italien kann den Gartenzwerg ausstehen. Niemand will ihn haben. Es war schon immer ein Problem Italiens, alten Männern zu grosse Narrenfreiheit zu gewähren, anstatt sie rechtzeitig ihrer nepotistischen Raffgier zu berauben, die sie im fortgeschrittenen Alter wie ein unheilbares Geschwür befällt. Anstelle von Ta-Vecchio (“il Vecchio” zu deutsch “der Alte”) hätte der smarte Demetrio Albertini das Amt übernehmen können und ein Provinzcoach wie Ventura (zu deutsch “das Schicksal”), den Tavecchio in typisch italienischer Titelmanie dem Fussballvolk als “Maestro di Calcio” verkaufte, hätte wohl niemals auf der Bank der Squadra Azzurra Platz genommen. Aber wie das unter alten Männern so ist. Man gibt seine Stimme den anderen alten Männern. Aber kann wirklich ein alter Mann alleine den italienischen Fussball zu Fall gebracht haben? Hat er nicht. Der Niedergang hatte sich seit einem Jahrzehnt angekündigt und vor den Augen der Welt vollzogen. Und war doch nicht recht begreifbar. Hatte man nicht trotz blamabler WM Vorstellungen im letzten Jahr noch Spanien souverän geschlagen, Belgien 2:0 abgefertigt und den Deutschen hochmütig das Elfmeterschiessen geschenkt? Warum hat am Ende jede Mannschaft der Welt Respekt vor einer Truppe, die gegen Schweden in 180 Minuten kein Tor schiessen kann? Wobei festzuhalten bleibt, dass keine italienische Mannschaft der letzten 2000 Jahre derart humorlos gemauert hätte, wie es die Schweden im Rückspiel getan haben. Aber lassen wir das und riskieren einen Blick in den blauen Abgrund der Squadra Azzurra. Es ist mit dem italienischen Fussball wie mit allem anderen auch. Man muss es lieben, um es zu verstehen. Oder zu hassen. Oder an ihm zu verzweifeln und dann wieder zu lieben. Ja, man kann den italienischen Fussball lieben. Sehr sogar. Es muss an dieser Stelle einmal klar gesagt werden. Nur in Germania hat man ein derart grosses Problem mit dem italienischen Fussball. Überall sonst auf der Welt wird man als Tifoso meist freundlich begrüsst. Forza Italia! Der Fussball lebt eben wie das Leben selbst von Emotionen und wer kann es da ernsthaft aufnehmen mit den Spielern aus dem Opernland. Den Diven. Den Schauspielern, Heulsusen, Schwalbenkönigen und Muttersöhnchen. Grandi Emozioni! Der eigentliche Punkt zum besseren Verständnis italienischer Fussballkultur ist aber ein anderer. Es gibt nun einmal zwei grosse kulturelle Identitäten hüben und drüben der Alpen. Das war auch schon so, als ausser ein paar Atztekenstämmen niemand Fussball spielte. Die Römer hatten Togas, die Germanen Felle, die Toskaner den Wein und die Sachsen das Bier, Arkadien die Dekadenz und Germanien den Fleiss, die Medici bewarfen ihre Künstler mit Geld, während die Fugger sparten und ihren Arbeitern eine eigene Stadt bauten. Nur wer die historische Dimension eines Landes und seiner Kultur versteht, kann dessen Fussballmentalität verstehen.
It's the history, stupid!
Folgt man diesem Ansatz ist es im Grunde ganz einfach, das Wesen des italienischen Fussballs zu verstehen, so wie man ja auch das Wesen der italienischen Oper versteht.
Grandi Emozioni!
Nicht, dass es in Germania keine Emotionen gäbe. Sie sind nur anders, nicht so “grandi”. Man stelle sich vor, Bach würde gegen Verdi Fussball spielen. Oder Fellini gegen Fassbinder, Caravaggio gegen Cranach, Mastroianni gegen Rühmann oder eben Pirlo gegen Matthäus? Aber zurück zur historischen Dimension einer nationalen Fussballmentalität, die in Italien bis heute ihre unverwechselbare Individualität bewahrt hat und nun, wie das Land selbst, daran zu zerbrechen droht. Die italienische Fussballwelt besteht wie die Welt selbst aus vier Elementen. Anders als einige ihrer grossen Kontrahenten im Weltfussball, ob nun Brasilien, Deutschland oder Holland will eine italienische Mannschaft nicht durch ihr Spiel berauschen, sondern durch ihre Cleverness. Im Italienischen sagt man dazu FURBIZIA. Wer nicht den Cosmos dessen versteht, wofür Furbizia steht, wird niemals ein Verständnis für den Calcio Italiano entwickeln. Es ist von allen Elementen das offensichtlichste zum Verständnis italienischer Spielphilosophie. Der geflügelte Satz, wonach man nur so stark spielt wie der Gegner es zulässt wird bei der Squadra Azzurra zum umgekehrten Credo. Man spielt nur so stark wie der Gegner es erfordert. Verschätzt man sich, hat das fatale Folgen. Seit dem letzten WM Titel 2006 hat sich die Squadra ungewöhnlich häufig verschätzt. Gegen die Slowakei, gegen Uruguay und nun gegen die Schweden. Und doch ändert es nichts an der Gewissheit, dass Italiens Fussballer das Prinzip der Furbizia niemals aufgeben werden. Deshalb gewinnt Italien nicht wie der deutsche Mitkonkurrent um Europas Fussballkrone 12:0 gegen Zypern oder 8:0 gegen Saudi Arabien. Wofür? Teutonische Dominanz drückt sich gerne in Zahlen aus, italienische in dem Mass an Furbizia. Das Dominieren ist dem Italiener ohnehin fremd. Er ist einfach gerne der Gewieftere, der Schlauere, der den Gegner studiert bevor er ihn taktisch besiegt, ohne sich dabei körperlich zu verausgaben. Nur aus dem Geist der Furbizia ist zu verstehen, warum im italienischen Fussball nicht ein 4:0, das allgemein als eccessivo, also übertrieben angesehen wird, sondern das schlanke 1:0 das begehrteste aller Risultate ist. Spricht der Laie verächtlich von italienischem Fussball, so redet er vom Catenaccio, der in Italien jedoch nur eine der vielen Strategien ist, ein Fussballspiel aus der DIFESA (Abwehr) heraus zu kontrollieren. Wie auch sonst will man ein Spiel kontrollieren, schliesslich hat auch der italienische Calciatore (Fussballspieler) keine Augen im Rücken. Die Annahme jedoch, man könne die italienische Spielweise auf die Difesa reduzieren, ist schon deshalb falsch, weil die italienischen Mannschaften, anders als beispielsweise die Tedeschi (Deutschen), die Hälfte ihrer vier WM Finalsiege mit zwei Toren Unterschied gewonnen haben. Die Tedeschi hingegen müssen damit leben, dass weniger gutwillige Fussballgelehrte darin einen Makel erkennen, wie er justament von deutscher Seite gerne gegen italienische Mannschaften angeführt wird. War der Sieg überhaupt verdient? Man könnte dies bei den deutschen Finals von 1954, 1974 oder auch 2014 durchaus bestreiten, was nur deutlich machen soll, dass man sich mit Vorurteilen über die italienische Defensive schon rein statistisch auf dünnem Eis bewegt. Viel entscheidender dagegen für das Verständnis der italienischen Defensivkultur ist eben die Kultur. Als man nördlich der Alpen noch offensiv von der Eroberung östlicher Lebensräume träumte, hatten sich die Stiefelbewohner schon längst wieder von ihnen getrennt und sich fortan auf die Verteidigung des überschaubaren Kernlandes mit dem unüberschaubar grossen Kulturerbe besonnen. Warum sollte der Fussball eines Landes anders sein als sein Kulturverständnis? Man verteidigt, was man hat und schaut lieber mal defensiv zurück, anstatt unaufhörlich offensiv den gegnerischen Lebensraum zu avisieren. Mindestens so wichtig wie die Difesa zum Verständnis des italienischen Fussballs aber ist die MAMA. Egal wie sehr die Fratelli ungeachtet ihrer Herkunft aus Nord oder Süd die Hymne schmettern, eine Mannschaft im Sinne einer eingeschworenen Truppe, die sich füreinander aufopfert, wie es deutsche Kommentatoren so gerne beschwören - und dabei vergessen, dass Aufopferung mit Blick auf die deutsche Geschichte nicht unbedingt zu empfehlen ist - wird eine italienische Mannschaft niemals sein. Der italienische Nationalspieler ist ein Söldner im eigenen Land, das er nicht anerkennt. Hier ist der elementare Unterschied zur deutschen Mannschaft. Sie spielt, wenn es darauf ankommt für das Vaterland, während die Squadra Azzurra für den eigenen Ruhm spielt. Also für die Mama. Alle, ob Pirlo oder Meazza, ob Rivera oder Buffon spielen am Ende nicht für ihren Trainer, sondern für ihre Mama. Vielleicht ist das der Schlüssel zu meiner ewigen Liebe zur Squadra Azzurra. Auch ich mache Filme, schreibe Bücher und koche für meine Mama. Das Problem mit der italienischen Mama allerdings ist, dass sie den Figlio auch dann lobt, wenn es nichts zu loben gibt. Er ist schon ein Star, bevor er seinen ersten Fussballschuh anzieht. Dies kann dazu führen, als erwachsener Fussballer unter einer gewissen Realitätsstörung zu leiden, wenn es um die Einschätzung des eigenen Talents geht. Wobei wir beim vierten Element der italienischen Fussballwelt angekommen wären. Dem GENIO. Das italienische Genie erhebt sich nicht aus einer Gruppe ähnlich Talentierter, es schiesst jäh heraus und betört wie alle wahren Genies durch seine Anarchie. So talentiert beispielsweise die junge Generation deutscher Fussballer auch sein mag, so hoch ihr Talentquotient, Genies sehen anders aus. So wie Pirlo oder Totti. Oder Paolo Rossi, der WM Torschützenkönig von 1982, der seine Gegenspieler schon beim Aufwärmen foppte, in dem er so tat, als könne er keine 100 Meter laufen ohne umzufallen. Oder Franco Baresi, der lombardische Libero, der selbst Beckenbauer, den Grössten aller Tedeschi an Lässigkeit noch übertraf. Oder Roberto Baggio, der sechsbeinige Fussballbuddhist, der laut eigener Aussage in seinem früheren Leben eine Ente war, was angesichts seiner eleganten Füsse ebenso verwirrte, wie die Tatsache, dass ausgerechnet die in sich ruhende, reinkarnierte Ente Italiens fünften WM Titel in den Himmel von Pasadena verschoss. Oder Francesco Totti, den selbst der geniale Genieexperte Maradona als “the best player I ever saw” bezeichnete. Oder Alessandro Nesta, der grosse Verteidiger der vierten, goldenen Generation, der schönste Fussballer aller Zeiten, der, um sich nicht in den Dreck werfen zu müssen, einfach immer genau dort stand, wo der Ball hinkam. Oder eben Mario Balotelli, dessen autistisches Genie nur wenige Sekunden seiner gesamten Karriere schmückt und doch gegen die biederen Schweden so schmerzlich vermisst wurde. Womit geklärt wäre, was dem Calcio Italiano anno 2017 fehlt. FURBIZIA und GENIO. Weder die solide DIFESA noch die klagende MAMA vor dem Fernseher konnten die Apokalypse verhindern.
PS. Die Apokalypse steht, so weiss schon das alte Testament, nicht allein für den Weltuntergang, die Apokalypse steht ebenso für eine Zeitenwende. Wohin? Es wird sich zeigen.
Es lebe die Apokalypse!